Der Tag einer Frau
Der Tag einer Frau Der Tag hatte angefangen, wie jeder andere Tag auch und wie jeder Tag anfangen würde. Es gab schon lange keinen Grund mehr, sich auf einen neuen Tag zu freuen. Der Wecker riss sie immer um 6.30 Uhr aus dem Schlaf, sie ging immer zuerst in die Küche und stellte die Kaffeemaschine an, danach ging sie ins Badezimmer, putzte sich die Zähne, duschte, um sich dann, nach dem Schminken, anzuziehen. Die Schminke war ihr wichtig, so wichtig, wie Kleidung, ohne die man nicht nur physisch nackt und angreifbar war. Ihre erste Zigarette rauchte sie an jedem Morgen, bei der ersten Tasse Kaffee. Essen konnte sie morgens nichts, das hatte sie noch nie gekonnt, schon als Kind wollte man ihr das angewöhnen, doch als man bemerkte, dass ihr davon übel wurde, ließ man es. Manchmal stellte sie das Radio an, das auf ihrer Fensterbank stand, aber eben nur manchmal. Am liebsten war es ihr, wenn es still war um sie, wenn das Fenster geschlossen war und kein Lärm von außen zu ihr eindringen konnte. Die 20 Watt Birne war gerade Licht genug, sie mochte es lieber dunkel, deshalb mochte sie auch den Spätherbst, besonders dann, wenn es nicht mehr so richtig hell werden wollte und sie den Weg zur Arbeit im Dunkeln gehen konnte und auch am Abend von der selben Dunkelheit empfangen wurde. Die Stunden dazwischen funktionierte sie, so wie sie eben funktionieren musste, saß in grellem Neonlicht an ihrem Schreibtisch und sehnte sich nach dem Abend, dem Weg durch die Dunkelheit. Diese Jahreszeit hatte nur Vorteile für sie, das Leben wurde gedämpfter, stiller. Die Fenster waren nun alle geschlossen, Musik, Gelächter, Gesprächsfetzen, schreiende Kinder, nichts drang mehr nach draußen, sie musste nicht mehr hören, wie all die anderen lebten. Es wurde kälter, sie konnte sich wieder in ihren Rollkragenpullovern verstecken, so wie sie es immer tat, den Rollkragen halb über’s Kinn gezogen, die Haare, so weit es ging, ins Gesicht fallend. Es regnete an diesem Morgen, also zog sie die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf. Das war gut, das war sehr gut. Mit gesenktem Kopf machte sie sich auf den Weg zur U-Bahn, sie würde den Kopf erst wieder erheben, wenn sie an ihrer Arbeitsstätte angelangt war. So war es immer, so würde es immer bleiben, es gab keinen Grund mehr, sich umzusehen, nach den anderen zu schauen. Eigentlich hatte es dafür nie einen Grund gegeben, die Blicke auf andere Menschen hatten ihr nichts eingebracht, meist hatte sie nur in ausgelebte und starre Gesichter gesehen, in trostlose Leere, die nichts mehr zu erzählen hatte. Jetzt konnte sie Straßenbeläge besser beschreiben, als Gesichter. Auch in der U-Bahn sah sie kaum auf, während sie stand, sie setzte sich nie, sie stand immer. Manchmal starrte sie aus dem Fenster, sah Kabelstränge in den Schächten vorbeifliegen, manchmal einen abgestellten U-Bahn-Zug auf einem totem Gleis und fühlte an Umsteigebahnhöfen die vorbeieilende Menge, die sich drückte und schob, an ihr vorbei, viel zu dicht. Jetzt waren sie wenigstens alle dick eingemummt, man konnte sie nicht mehr so intensiv riechen, sie hatten alle ihren eigenen Geruch, den sie nicht mochte. Früher hatte sie während der Fahrt immer noch eine Tageszeitung gelesen, sie hatte es aufgegeben, es gab nichts Neues, nichts, was wichtig für sie gewesen wäre. Und Bücher sagten ihr auch nichts mehr, das letzte Buch, das sie gelesen hatte, war Calderón’s ‚Das Leben ist ein Traum‘. Sie war froh, als sie es zur Seite legen konnte, es hatte sie angestrengt, dieses Buch zu lesen, irgendwann hatte sie während des Lesens nur noch geleiert, den Sinn kaum noch erfasst. Ihre Arbeit machte sie sorgfältig, versuchte, nicht aufzufallen, war freundlich, galt als beliebt, weil nett und hilfsbereit. Man konnte sich ihr anvertrauen, das wusste man und tat es. Sie schluckte die Freuden und Leiden der anderen ohne je von sich erzählt zu haben, was niemanden störte, denn eigentlich wollten sie alle ja nichts hören, sie wollten nur erzählen. Was hätte sie auch erzählen können? Nichts. Ihr Leben war an ihr vorbeigeflogen, wie die Kabelstränge in den U-Bahn-Schächten und die Zeit verging immer schneller, ein Tag, ein Monat, ein Jahr. Es war lange her, dass sie geliebt hatte, gelebt hatte, sich auf die Tage freute und auf die Nächte. Ausgeliebt, ausgeweint, ausgetrauert, ausgelebt, so fühlte sie sich. Auch dieser Tag verging und die lang ersehnte Dunkelheit schob die letzten hellen Fetzen am Himmel wie einen Vorhang zur Seite. Und wieder flogen die Kabelstränge an ihr vorbei und wieder ging sie die feucht glänzenden Straßen entlang, vorbei an den Fenstern, die geschlossen waren, hinter denen man lebte, vielleicht lebte. An diesem Abend legte sie eine Schallplatte auf, eine alte Schallplatte. Marianne Faithful sang ‚The Ballade of Lucy Jordan‘, sie mochte dieses Lied, sie mochte diese Stimme, die vom Leben gezeichnet war und der man anhörte, dass sie ihre Unbeschwertheit schon lange verloren hatte. Und irgendwie war dieses Lied ihr Lied, denn nichts würde sich ändern, nichts würde passieren und die Mittelmäßigkeit aus ihrem Leben pusten, wie eine Seifenblase. Eisige Kälte umhüllte sie, als sie auf den Balkon ging und ihr war, als würde die Dunkelheit ihren Vorhang öffnen, der Herbstmond die Bühne beleuchten und sie mit tosendem Applaus empfangen.