Die glückliche Familie
Das größte von allen Blättern ist wohl das Klettenblatt; ein Kind kann es als Schürze oder als Regenschirm benutzen; aber eine Schnecke ißt es am liebsten auf; es ist ihre Lieblingsspeise. Daher hatte man in der Nähe eines Edelsitzes Kletten gesät, weil die Schnecken wiederum eine Lieblingsspeise der Herrschaften auf dem Edelhofe waren. Aber diese waren gestorben, das Schloß war verfallen, der Garten verwildert; nur die Kletten wucherten fort, sie bildeten einen dichten Klettenwald und in diesem wohnten die beiden letzten uralten Schnecken.
Wie alt sie waren, wußten sie selbst nicht, konnten sich aber dessen noch ganz gut entsinnen, daß ihrer weit mehr gewesen waren, daß sie von einer aus fremden Ländern eingewanderten Familie abstammten und daß für sie und die Ihrigen der ganze Wald angepflanzt war. Sie waren über denselben nie hinausgekommen; gleichwohl war es ihnen nicht unbekannt, daß noch etwas zu der Welt gehörte, was Rittergut hieß. Dort oben wurde man gekocht, wovon man schwarz wurde, und dann wurde man auf eine silberne Schüssel gelegt; was dann aber weiter geschah, wußten sie nicht. Was das übrigens zu bedeuten hätte, gekocht zu werden und auf silberner Schüssel zu liegen, konnten sie sich nicht vorstellen, nur sagte ihnen ein dunkles Gefühl, daß das etwas Herrliches und überaus Vornehmes sein müßte.
Die alten weißen Schnecken waren die vornehmsten in der Welt, wie sie sehr wohl wußten; lediglich um ihretwillen war der Wald da, und das Rittergut war da, damit sie gekocht und auf silberne Schüsseln gelegt werden konnten.
Sie lebten jetzt sehr einsam und glücklich, und da sie selbst ohne Kinder waren, so hatten sie eine kleine gewöhnliche Schnecke an Kindesstatt angenommen. Der Kleine wollte indes nicht wachsen, da er zu niedriger Abkunft war. Aber die Alten, besonders die Schneckenmutter, meinten doch, eine Zunahme merken zu können, und letztere bat den Vater, er möchte nur das kleine Schneckenhaus befühlen, und das that er und fand, daß die Mutter recht hatte. —
„Höre nur, wie es heute auf die Kletten plätschert!“ sagte an einem Regentage der Schneckenvater. „Ich bin nur froh, daß wir unser gutes Haus haben und der Kleine auch das 62 seinige. Für uns ist allerdings besser gesorgt als für alle übrigen Geschöpfe, woraus du ersiehst, daß uns die Herrschaft in der Welt gehört! Von Geburt an besitzen wir ein Haus und der Klettenwald ist um unsertwillen angepflanzt worden!“ — „Ich möchte nur wissen, was außerhalb desselben ist!“ meinte die Schneckenmutter.
„Außerhalb ist nichts! Das Schloß ist vielleicht eingestürzt!“ sagte der Schneckenvater, „oder der Klettenwald ist darüber hinweggewachsen, so daß die Menschen nicht mehr heraus können!“
„Hast du auch schon daran gedacht, wo wir eine Frau für unsern Kleinen herbekommen könnten?“ fragte die Schneckenmutter. „Glaubst du nicht, daß weit, weit in den Klettenwald hinein sich noch jemand unserer Art finden sollte?“
„Schwarze Schnecken, meine ich, werden wohl zahlreich vorhanden sein,“ sagte der Alte, „schwarze Schnecken ohne Haus, aber die gehören trotz ihrer Eingebildetheit zu dem gemeinen Volke. Wir könnten jedoch die Ameisen damit beauftragen; sie laufen, als wenn sie etwas zu thun hätten, regelmäßig hin und her; sie wissen gewiß eine Frau für unser Schneckchen!“
„Ich weiß freilich die allerschönste!“ sagte eine Ameise; „aber ich befürchte, es wird sich nicht machen, da es sich um eine Königin handelt!“ — „Das thut nichts!“ sagten die Alten. „Hat sie ein Haus?“ — „Sie hat ein Schloß!“ sagte die Ameise. „Das schönste Ameisenschloß mit siebenhundert Gängen.“ — „Nein, besten Dank!“ sagte die Schneckenmutter, „unser Sohn soll nicht in einen Ameisenhaufen! Wißt ihr nichts Besseres, so wollen wir uns an die weißen Mücken wenden; sie fliegen in Regen und Sonnenschein weit umher und kennen den Klettenwald von innen und von außen!“
„Wir haben eine Frau für ihn!“ sagten die Mücken. „Hundert Menschenschritte von hier sitzt auf einem Stachelbeerstrauche eine kleine Schnecke mit einem Hause.“ — „Gut, laßt sie zu ihm kommen!“ sagten die Alten, „er hat einen Klettenwald, sie hat nur einen Strauch!“
Da holten sie das kleine Schneckenfräulein. Das dauerte acht Tage, aber das war gerade das Hervorragende dabei; damit bewies sie, daß echtes Schneckenblut in ihr rollte.
Darauf wurde Hochzeit gefeiert. Sechs Leuchtkäfer leuchteten, so gut sie vermochten; sonst verlief die Feierlichkeit in aller Stille, denn die alten Schnecken konnten Schwärmen und Lustbarkeiten nicht leiden. Dagegen wurde von der Schneckenmutter eine schöne Rede gehalten; der Vater war nicht dazu im Stande, er war zu bewegt, und dann übergaben sie ihnen den ganzen Klettenwald als Erbteil und wiederholten, was sie stets gesagt hatten, daß es das Beste in der Welt wäre, wenn sie und ihre Kinder einst auf das Schloß kommen, schwarz gekocht und auf eine silberne Schüssel gelegt werden würden.
Nach Schluß der Rede krochen die Alten in ihre Häuser und kamen nie wieder heraus; sie schliefen. Das junge Schneckenpaar regierte im Walde und erhielt eine zahlreiche Nachkommenschaft, nie aber wurden sie gekocht und nie kamen sie auf eine silberne Schüssel, weshalb sie meinten, daß das Schloß eingestürzt und alle Menschen in der Welt ausgestorben wären, und da ihnen niemand widersprach, galt es natürlich als wahr. Der Regen schlug auf die Klettenblätter, um ihnen eine Trommelmusik vorzumachen, und die Sonne leuchtete, um ihretwegen den Klettenwald in ein Lichtmeer zu tauchen und sie waren sehr glücklich und die ganze Familie war glücklich, und sie war es wirklich.